Geschichten von Borken


Sigrid Breier, Jahrgang 1941, lebt in der Nähe von Dinkelsbühl in Franken und beschäftigt sich gerade im Alter von 80 Jahren mit ihren Kindheitserinnerungen. Sie lebte bis zu ihrem 9. Lebensjahr gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Friedegard bei ihren Großeltern Emma und Eduard Trenkel in Borken (Hessen). Der Großvater führte seit dem Jahr 1940 Am Markt 5 das Geschäft „A. Soff Nachfolger Eduard Trenkel“. Hier verkaufte er mit seiner Frau Haushalts- und Eisenwaren, Lebensmittel, Glas und Porzellan.

Die heimatverbundene Seniorin Sigrid Breier schrieb vor kurzem an das Stadtarchiv Borken und bat darum, sie bei der Erstellung der Kindheitserinnerungen zu unterstützen. Konkret fragte sie nach Aufzeichnungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Als junges Mädchen erlebte sie den Einmarsch der Amerikaner im Jahr 1945 als Augenzeugin. Sie erinnert sich noch gut an die US-Sherman-Panzer, die durch die Kernstadt kurvten.

Sigrid Breier ist unter ihrem Mädchennamen Hildinger vielleicht noch dem einen oder anderen bekannt. Trotz ihres damals noch jungen Alters erinnert sie sich auch an die Schreckensnacht, in der das Rüstungszentrum Kassel bombardiert wurde. Nach der damaligen Frage „Willst Du Kassel brennen sehen?“, brachte man die Dreijährige ins Obergeschoss, wo sie von einem Gaubenfenster heraus in Richtung der nordhessischen Metropole blickte. Der Himmel: Glutrot. Sigrid spürte instinktiv, dass die Bombennacht Zerstörung und Tod brachte. Das Ereignis brannte sich bis heute in ihr Gedächtnis ein.

Fliegeralarm in Borken
Wenn es Fliegeralarm gab und die feindlichen Flugzeuge über Nordhessen flogen, suchten die Familie Hildinger und das Ehepaar Trenkel den Bierkeller der Schnettlerschen Gaststätte auf, der Bewohnern und Anliegern als provisorischer Luftschutzraum diente. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren rief große Angst hervor, galten doch die kriegswichtigen Bergbau- und Kraftwerksbetriebe am Rande der Kernstadt ebenfalls als potentielle Angriffsziele. Mutter Hildinger führte bei Alarm immer einen Weidekorb mit wichtigen Dokumenten und Unterlagen mit sich. Der Korb stand stets griffbereit im Wohn- und Geschäftshaus.

Auch an die Nachkriegszeit gibt es Erinnerungen. Sigrid Breier berichtet, dass jetzt viele amerikanische Soldaten das gut geführte Fachgeschäft aufsuchten und in Militärjeeps vorfuhren. Die pfiffige Enkelin von Eduard hatte schnell spitz, dass diese Einkäufe gute Chancen boten, etwas abzustauben. „Es fiel eigentlich immer ein Stück Schokolade oder eine Nascherei ab“, sagt Breier. „Mein Großvater schimpfte immer über meine „Bettelei“ und schickte mich weg. Aber damals gab es ja nicht viel für uns Kinder und so kam ich auch beim nächsten Jeep wieder „zufällig“ ins Geschäft.“

Außer Süßigkeiten war auch Kinderliteratur rar. Das Mädchen Sigrid las den Struwwelpeter als eines der wenigen Kinderbücher, die es überhaupt als Lektüre gab. Sie kannte daher die Geschichte, dass dem Struwwelpeter als Strafe für seine Unartigkeit der Daumen abgeschnitten worden war. Umso größer war bei ihr der Schrecken, als der benachbarte Schreiner im großväterlichen Geschäft auftauchte. Ihm fehlte ebenfalls aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Kriegsverletzung ein Daumen. „Ist das der Struwwelpeter?“, ängstigte Sigrid sich.

Ostern 1948 wurde Sigrid Hildinger in Borken eingeschult. Sie sandte ihr Klassenfoto an das Stadtarchiv, das wohl die Klasse im 2. Schuljahr 1949 zeigt. Die Klassenlehrerin hieß Frau Christel oder Frau Krista. Vielleicht erkennen sich ja andere ehemalige Schülerinnen und Schüler wieder und können den Namen der Lehrerin angeben.

Das lebhafte Treiben auf dem Marktplatz ist bis heute bei der Seniorin in guter Erinnerung. „In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich das Friseurgeschäft Amthauer und die Bäckerei Christian Hahn, später Bäckerei Laufer“, zählt Breier auf. Die Bäckerei war für ihren Waffelbruch und ihre – damals tatsächlich so bezeichneten – „Negerküsse“ vor allem bei den Schulkindern bekannt und beliebt.

Abends ging es dann im Ratskeller hoch her. Dieser befand sich im Historischen Rathaus. Diese Gastwirtschaft und Metzgerei wurde gerne von trinkfesten Bergleuten aufgesucht. Hier fanden auch Silvesterpartys statt. „Wir Kinder suchten am folgenden Neujahrstag, ob noch etwas übriggeblieben war“, schmunzelt Sigrid Breier.

Auch das Hotel zur Post war eine beliebte Lokalität in unmittelbarer Nähe. Es gab sogar bis in die 1950er Jahre ein kleines Kino für die Borkener Einwohner. Sigrid Breier erinnert sich auch an den Bäcker Becker: „Ich geh´ bei Bäcker Becker und hole mir ein Sommer-Eis“, rief sie ihrer Mutter des Öfteren zu. Auch die Bäckerei Mardorf, die Apotheke Mondon, die Kohlenhandlung und Drogerie Zeisse, die Metzgerei Hempler und ein Hutladen sind noch wohlbekannt. Im Jahr 1956 kaufte die Mutter in dem Bekleidungsgeschäft Georg Plock ein Konfirmationskleid für Sigrid. Dieser Kauf war eine Besonderheit, denn meist nähten die Familien die Kleidung selbst.

 Vier Mädchen vor dem Soff-Geschäft: Sommerferien 1951: Sigrid Breier, rechts, verbringt ihre Ferien in der Borkener Altstadt und lässt sich mit (v.l.n.r.) ihren Freundinnen Karin Michalski, deren Schwester und ihrer jüngeren Schwester Friedegard vor dem Schaufenster des Geschäfts ihres Großvaters Eduard Trenkel fotografieren (Foto: Sigrid Breier, Ehingen).

Sigrid Breier zählt mit der Gärtnerei und dem Gemüsegeschäft Ochs, dem Stoffhaus Bechtel, dem Uhrmacher Müller und einem EL DE ES Lebensmittelmarkt weitere Geschäfte der Nachkriegs- und der Wirtschaftswunderzeit auf.

Im Jahr 1950 verließ Sigrid Breier Borken und kam 1961 noch für ein Jahr wieder zurück, um im „Waisenhaus“ als Erzieherin zu arbeiten. Hier war nach dem Krieg auch ein Kindergarten untergebracht. Im Stadtarchiv gibt es bislang keine Unterlagen zu dieser sozialen Einrichtung.

Frau Breier würde sich sehr freuen, wenn sich Borkener Einwohnerinnen und Einwohner, die damals ebenfalls in der Bergarbeiterstadt aufgewachsen sind, bei ihr melden, um gemeinsame Kindheitserinnerungen auszutauschen. Der Historiker und Leiter des Bergbaumuseums, Ingo Sielaff, Tel. 05682/808186, Mail IngoSielaff@Borken-Hessen.de, ist gerne bereit, den Kontakt herzustellen.

Das Stadtarchiv und der Geschichtsverein Borken haben Frau Breier mit einem Stadtplan aus dem Jahr 1941 und einigen historischen Fotografien bei ihrer Kindheitsrecherche unterstützt. Das Archiv würde sich als Gedächtnis der Stadt sehr über weitere Erinnerungen von Bürgerinnen und Bürgern aus der Kernstadt und den Stadtteilen freuen. Von großem Interesse sind auch aussagefähige historische Fotografien oder gar Museumsstücke.

Auch Bürgermeister Marcèl Pritsch unterstützt das Anliegen des Stadtarchivs: „Wer, wenn nicht wir Borkener, soll etwas zur Stadt- und Regionalgeschichte erzählen, die nur dann lebendig und für die Nachwelt erhalten bleibt“.